Die Entwickler solcher Start-Ups behaupten, dass sie keinen Einfluss nehmen wollen, dass sie die Algorithmen einfach ihre Arbeit machen lassen. Als ob Algorithmen eine objektive Instanz wären. Da geht es auch um Verantwortungsverweigerung. Denn was passiert, wenn ein Mensch mit schlechtem Charakter als Avatar weiterlebt? Wer übernimmt die Verantwortung für rassistische oder sexistische Kommentare, die ein aus persönlichen Datenbergen gespeister Avatar von sich gibt? Die Firma, die den Avatar betreibt? Oder die Angehörigen? […]
Wir werden uns daran gewöhnen, schon zu Lebzeiten diverse Ableger von uns selbst zu haben, also Avatare, die in unserem Namen arbeiten oder lästige Aufgaben wie Steuererklärungen oder anderen Bürokram erledigen. Sie werden auch unsere Meinungen und Interessen vertreten, soziale Beziehungen knüpfen und pflegen. Die virtuelle und die analoge Welt werden sich übereinander schieben. An manchen Orten wird man virtuell, an anderen physisch präsent sein. In solch einem Szenario könnte es uns selbstverständlich vorkommen, dass Menschen auch dann noch „unter uns“ sind, wenn ihre physischen Körper tot sind. Selbstverständlich werden auch das nur Simulationen sein, ohne menschliches Bewusstsein. Wahrscheinlich werden wir uns in Zukunft viel aktiver dafür entscheiden müssen, einen Verstorbenen tot sein zu lassen. Vielleicht führt das im Umkehrschluss wieder zu einem bewussteren Abschiednehmen, einer selbstbestimmteren Trauerkultur.
Moritz Riesewieck, sueddeutsche.de, 15.04.2025 (online)