Die Geschichte der Kantine ist wohl vorbei, was sehr schade ist. Aber man muss dazu sagen, dass es auch eine Geschichte des Alkoholismus ist. Rolf Ludwig, ein wunderbarer Schauspieler und Staralkoholiker, Erik S. Klein, Gerd Preusche, die Reihe derer, die an der Droge gestorben sind, ist sehr lang. In meiner Erinnerung sind sie aber sehr lebendig. Während ich heute lauter sehr talentierte, sehr fitte und privat kontrollierte Schauspieler erlebe. Dresden hat eine gute Ensembletradition, ist aber auch ein Durchlauferhitzer geworden. Die wollen alle weiter nach München, Hamburg oder Berlin. Das war früher anders. Da blieben die Ensembles länger zusammen, und die Schauspieler haben voneinander gelernt. […]
Manchmal ist an der Endstation keine Sehnsucht mehr übrig. Wo wollte man denn in der DDR noch hin, wenn man in Dresden oder in Karl-Marx-Stadt gelandet war? Und wenn es keinen Abfluss gibt, sammeln sich die Talente, hocken aufeinander, verbrüdern oder verfeinden sich – in der unausweichlichen Kantine, weil oft nichts anderes offen hatte. Das hat der künstlerischen, inhaltlichen und politischen Arbeit nicht geschadet. Der Gesundheit allerdings, wie die vielen Toten zeigen. […]
Wir genossen zumindest phasenweise und modellhaft unsere künstlerische Freiheit in einem unfreien Land. Freie Kunst auch im Sinne von: jenseits aller Produktions- und Verwertungszusammenhänge. Daran versuche ich heute zu erinnern, denn diese Zusammenhänge sind derart dominant, übrigens auch die ideologischen und pädagogischen, dass man sich eine wirklich freie Arbeit gar nicht mehr vorstellen kann. So wenig, dass es nicht einmal mehr die Sehnsucht danach gibt.
Frank Castorf, berliner-zeitung.de, 17.04.2025 (online)