Julia-Niharika Sen sagt, und es sind zwanzig Nachrichten-Sekunden als Intro vorbei: „Die Opposition hat ihn zerpflückt, Sozialverbände ziehen ein gemischtes Fazit, und der Wirtschaft macht er Hoffnung.“ Und weiter: „Der gestern vorgestellte Koalitionsvertrag von Union und SPD wird sehr unterschiedlich beurteilt, doch was halten eigentlich die Bürgerinnen und Bürger von dem schwarz-roten Papier? Wir haben uns im ganzen Land umgehört.“ Im ganzen Land? Solide Sache. Hier zeigt eine mächtige Sendeanstalt ihre Muskeln.
Im ganzen Land meint nun: Altenburg in Thüringen. Würzburg in Bayern. Hamburg – und Brühl in NRW, Generationen von nordrhein-westfälischen Schulkindern bekannt durch Klassenausflüge ins „Phantasialand“ mit Wikinger-Bootsfahrt und Hawaii-Restaurant. Sieben Menschen, Frauen, Männer, Ältere und Halbältere. Relevanz im Sinne einer Analyse ist es nicht, was nun zu hören ist. Atmosphärisches im Sinne von zufällig eingefangenen Ad-hoc-Meinungen ist es dagegen schon. […]
Seit einiger Zeit kultivieren ARD und ZDF den Irrglauben, dass die vielen, vielen Menschen, die nach Tagen, in denen sie mit Trash und Unsinn aller Art auf X und Insta durchgespült worden sind, abends keine verlässlichen Einordnungen und Hintergründe genießen möchten. Sondern dass sie sich selbst dabei zusehen wollen, wie sie einem Straßenreporter nicht rechtzeitig ausgewichen sind: „Ja gut, ich sach mal, wohl ist mir beim Blick in die Zukunft nicht.“ […]
Wenn man nun die Düngemittel und die Politik auf die eine Seite rechnet und Leute wie dich und mich auf die andere, dann haben auf diese Weise alle zu wenig Zeit, um etwas halbwegs Sinnstiftendes zu einem wahrlich komplexen Thema (Zukunft von Deutschland) zu sagen. Die Straßenumfrage ist die finale Schwundstufe des öffentlich-rechtlichen Auftrags, die vollkommene und vollkommen zynische Simulation von Authentizität.
Gerhard Matzig, sueddeutsche.de, 11.04.2025 (online)